Aufstellung  Mitternacht, die ersten Wolkenlücken zeigen sich. Der Komet steht nahe beim Polarstern. Sein   Schweif ist bis zum großen Wagen zu verfolgen. Also: Teleskop raus und fotografieren! Mit einiger Mühe wuchte ich im Garten den C-11-Tubus auf die Schwalbenschwanzschiene. Wenn ich den jetzt   fallen lasse, wacht wohl die ganze Nachbarschaft auf, denke ich. Ich als Musiker kann mir das   kakophone Geschäpper von aufschlagendem Blech und splitterndem Glas auf gepflastertem   Terrassenboden deutlich vor Ohren führen. Aber keine Sorge, der Tubus sitzt fest. Schnell sind   Kameras an der Gegengewichtsstange und auf dem Tubus montiert.  Die ersten Aufnahmen  Durch das C-11 wird nun auf den Kometen nachgeführt. Das ist gar nicht so einfach, da in der Nähe   des Himmelspols die Rektaszension kaum reagiert. Der große Wagen kulminiert, die Wolkenlücken   werden größer. Die ersten Fotos sind belichtet, Objektive gewechselt. Aber immer wieder ziehen   graue Wolken von Nord-Osten heran und bedecken für Minuten den Kometen. Dann aber leuchtet   er in all seiner Pracht. War der Schweif eben noch gegen Süden gerichtet, so zeigt er jetzt nach   Süd-West.   Gedanken  Tief im Süd-Osten ist nun Jupiter zu sehen. Soll ich den jetzt auch noch...? Nein, der steht zu tief.   Der Komet hat Priorität. Noch einige Aufnahmen mit unterschiedlicher Belichtungszeit. Nur nicht zu   lange belichten, sonst läuft der Film zu. Leichte Anflüge von Müdigkeit stellen sich ein. Nur gut, daß   ich jetzt gleich nicht zur Schule muß, ich würde sicherlich vor der Klasse einschlafen.   Noch zwei Aufnahmen, bevor die Dämmerung einsetzt. Den Kindern meiner Klasse werde ich nach den   Ferien die Bilder zeigen. Die werden staunen. Noch ein Bild, drei Minuten belichtet. Wie schön sie ist,   die Himmelserscheinung! Goethe fällt mir ein: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt...Ihr   glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei wie es wolle, es war doch so schön.“ Goethe war ein Augenmensch. Ich bin eher ein Ohrenmensch, aber in diesem Augenblick bin ich da nicht ganz Auge   für dieses Ereignis? Der Wagen macht sich schon zum Abstieg bereit. „Ich sehe die Deichselsterne   des Wagens, des liebsten unter allen Gestirnen.“ Das waren die letzten Worte Werthers, bevor er   sich die Kugel durch den Kopf schoß. Dämmerung Der grau-blaue Schimmer im Osten wird stärker, der Komet blasser. Noch einen letzten Blick zum   Firmament, dann wird abgebaut. In zwanzig Minuten liege ich im Bett. Schnell werden die Kameras   in den Koffer gepackt. Die Filme sind voll geworden. Die bringe ich am Mittag weg. Aber bis dahin   wird geschlafen. Es dämmert merklich. Die Zeitungsfrau fährt an den Häusern vorbei und wirft die   Journale ein, und ich liege bald im warmen Bett. Schnell die Gegengewichte in den Stahlkoffer.   Mensch sind die schwer. Bloß nicht fallenlassen!  Der Crash Ein krachender Schlag zerfetzt die Morgenstille! Ein Schrei: Scheiße!!! Was ist los? Da liegt er, der Tubus, zerschellt auf den Steinplatten der Terrasse. Noch wackelt er ein wenig. Nun kommt er zur   Ruhe. Ein Würgen im Hals läßt einen weiteren Schrei zu einem krächzenden Gurgeln werden. Nein,   nein nein, schreit es im Inneren, das kann nicht sein! Eben noch belächelte Hypothese, nun kalte   Realität. Zerschellt? Vorsichtig nähere ich mich der Leiche. Ich halte die Hand vor die Augen, um   nicht die zerborstene Schmidtplatte zu sehen. Langsam öffne ich die Finger. Wo ist die Schmidtplatte,   wo sind die Scherben? Nun begreife ich: Sie ist heil, sie ist heil! Und der Spiegel? Ist es zu glauben? Auch er unversehrt! Nach mehrmaligem Schlucken hebe ich den Tubus auf und untersuche ihn. Der   Frontring ist an einer Stelle eingebeult, die Sucherhalterung völlig zerstört. Das Sucherfernrohr   liegt im Blumenbeet, der Telradsucher neben dem Zaun.  Diagnose Wie konnte das geschehen? Na klar! Du bist ein Idiot! Du hast zuerst die Gegengewichte abgenommen.   Dann ist der schwere Tubus umgeschlagen, hat sich aus der Halterung gerissen, einer Halterung, die   nicht original angebracht war, und er ist dann aus einem Meter Höhe auf dem Boden aufgeschlagen.   Nochmalige Untersuchung: Eingebeulter Frontring, zerbrochene Sucherhalterung, ausgerissene   Gewinde bei der Halterungsplatte, Lockerung des Fangspiegels in der Schmidtplatte. Wenn es nicht   mehr ist, habe ich sehr großes Glück gehabt. Heute mittag bringe ich den Tubus zur Reparatur zum   Fachhändler. Hoffentlich entdeckt der nicht noch schlimmere Defekte.   Schlüssellochoperation Der Tubus ist zurück! Wieder völlig hergestellt! 400 DM. Na und! Eigentlich ein Klacks. So jetzt   schnell die Gewichtsschiene wieder an den Tubus geschraubt. Was ist das? Die Schrauben passen   nicht mehr. Die Gewinde sind wohl auch rausgerissen. Also muß ein Gewindeschneider her. Langsam und vorsichtig schneide ich zwei Gewinde in den Frontring. Nun die Stangenhalterung aufgesetzt und   die neuen Schrauben reingedreht. Mist, die sind zu lang. Also eine Mutter dazwischen. So, alles klar!   Nur noch die Stange mit dem Gewicht angepaßt „und nun kann ich hoffen und ich atme frei.“ Doch was   ist das? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Da liegen die Aluminiumspäne hinter der Schmidtplatte.   Idiot, hättest du dir doch denken können. Soll ich die Glasplatte jetzt herausnehmen, um die Späne   zu entfernen? Das Gerät ist frisch kollimiert worden. Da wage ich mich jetzt nicht dran. Aufgepaßt,   nur keine Späne auf den Spiegel fallen lassen. Noch liegt der Tubus. Wie komme ich nur an die Späne?   Langes Nachdenken, Ja, so muß es gehen. Schnell wird der Schlauch der Hyperanlage abmontiert und   mit Klebeband an den Staubsauger angeschlossen. Vorsichtig schiebe ich nun den Schlauch durch die   Öffnung des Spiegels und erreiche so die Späne. Span für Span wird so abgesaugt. Nach einer Viertelstunde ist das letzte Metallteilchen verschwunden.  Genesung  Nach zwei Wochen Klinikaufenthalt und einigen Tagen häuslicher Pflege hat sich der Tubus von seinem   schweren Sturz vollkommen erholt. Er ist wieder einsatzbereit und liefert gestochen scharfe Bilder   von der Venus und vom Mond. Der Hyakutake-Crash  1996  Impressum Startseite Schule Biografie