Der aufgehende Orion
Ausschnitt aus dem Kapitel 9. Vigilie
Orionnebel
Dann rief sie: „Mensch, bin ich blöd! Das ist der Orion, der Orion! Mein Gott, ist der schön, ist der schön!“
Ganz aufgeregt lief Stella dem Sternbild entgegen.
„Halt, halt, Stella, halt!“ schrie Karl mit überschlagender Stimme und rannte hinter ihr her. Stella blieb stehen, den Blick fest auf
Orion gerichtet. Karl stürzte sich auf sie, riss sie zurück und hielt sie mit beiden Armen fest.
„Schau mal runter!“
Stella stand vor einem jähen Abgrund, der sich in der Dunkelheit vor ihr wie ein schwarzer Schlund auftat.
„Sieh doch, wie prächtig der Schmetterling aufsteigt!“ rief sie. „Siehst du das denn nicht?“
„Doch Stella“, sagte Karl, der sie immer noch in den Armen hielt. „Doch, ich sehe es. Er ist wunderschön.“
Langsam ging er mit ihr zurück zur Sternwarte. Sie setzten sich zusammen auf die Bank vor dem Haus. Lange sagte Karl nichts.
„Und er steigt höher, das finde ich toll. Was ist los, warum sagst du nichts?“
„Ja Stella, das ist toll.“
„Sieht er nicht wirklich wie ein Schmetterling aus?“
Karl schwieg.
„Was ist mit dir?“ fragte Stella, „Geht‘s dir nicht gut?“
„Doch, doch, es geht schon. Ja, es ist wunderschön, wie er da über dem Horizont steht. Wenn du Weihnachten hier wärst, könntest
du ihn hier oben prachtvoll auf dem Kopf stehen sehen.“
„Schau mal Karl, da ist so ein heller Schein links vom Orion zu sehen. Was ist das?“
„Das ist wieder das Tierkreislicht. Das haben wir ja schon abends im Westen gesehen. Morgens kann man es im Osten beobachten.
Es läuft hier deutlich durch den Stier, und der Stier ist schließlich ein Tierkreissternbild.“
„Ich weiß jetzt gar nicht, wen ich schöner finden soll, den Skorpion oder den Orion.“
„Und wofür entscheidest du dich?“ fragte Karl.
„Ich glaube, ich bleibe beim Orion. Der steht bei uns im Winter so schön am Himmel.
Einmal habe ich ihn in den Alpen um Mitternacht so wunderbar gesehen. Und Mama war auch dabei.“
„In den Alpen?“
„In unserem Ferienhaus. Letztes Jahr Weihnachten waren wir da.“
„Du und deine Mutter?“
„Ja, und Tonio. Am Abend hat Mama wunderschöne alte Weihnachtslieder gesungen und Tonio hat sie begleitet. Ich habe dann noch
zwei Stücke auf der Geige gespielt. Mama war sehr zufrieden mit mir. Um Mitternacht sind wir auf die Terrasse gegangen. Da stand der
Orion so leuchtend über den Bergen und hoch oben die Plejaden. Überall glitzerte der Schnee. Da hat Mama mich an sich gedrückt und
mir einen Kuss gegeben.“
Karl richtete das Fernrohr aus.
„Soso, und Tonio?“ fragte er.
„Den hat sie abgeknutscht.“
„Ich zeige dir jetzt den Orionnebel“, sagte Karl. „Schau ihn dir erst einmal durch den Feldstecher an.“
Stella wusste, dass der Nebel unterhalb der Gürtelsterne zu finden ist. Da aber in Namibia der Orion beim Aufgang auf der Seite
liegt, suchte sie den Nebel schräg rechts über den Gürtelsternen. Sie erkannte sofort das milchige Fleckchen, das eine kleine Sterngruppe umgab.
„Hier ist er. Er steht zwar noch sehr tief, aber die Luft ist heute sehr klar und ruhig.“ Karl drückte Stella die Teleskopsteuerung in die Hand.
„Schau ihn dir genau an, du kannst ihn mit der Steuerbox in allen Richtungen abfahren. Du weißt ja inzwischen, wie das geht.“
Während Stella mit dem Teleskop den Nebel betrachtete, erzählte ihr Karl von den Entdeckungen des Hubble-Space-Teleskops.
Da sich dieses Teleskop im Weltraum auf einer Umlaufbahn um die Erde befindet, wird es nicht durch die Luftschichten der Atmosphäre gestört.
Gerade im Orionnebel hat es sensationelle Aufnahmen gemacht. Es hat Protosterne entdeckt, das sind Stenembryonen, also Sterne, die noch nicht
richtig leuchten, bei denen die Kernfusion im Inneren noch nicht eingesetzt hat. Ich hatte dir schon davon erzählt, als wir den Lagunennebel
beobachtet hatten. „Ich weiß, du hast von Babysternen gesprochen. Sind denn die Sterne, die ich hier im Nebel sehe, auch junge Sterne?“
„Ja sicher! Alle Sterne in einem solchen Sternentstehungsgebiet sind jung und höchstens einige Millionen Jahre alt.
Da, rechts , siehst du den hellsten Stern am Firmament. Es ist-"
„Es ist der Sirius. Das weiß ich längst. Sirius ist der hellste Stern und steht im großen Hund.“
„Ich bin beeindruckt Stella, was du alles weißt. Aber schau mal, da am Horizont kommt langsam die Dämmerung. Willst du noch den
Sonnenaufgang sehen?“
„Na klar doch,“ sagte Stella. „Danach gehe ich aber wieder ins Bett. Ich bin ziemlich müde.“
Beide setzten sich nun vor das Haus und betrachteten den östlichen Himmel. Ein blass-blauer Streifen zeigte sich am Horizont.
Langsam stieg er empor und hob sich dann immer heller gegen die indigofarbene Nachtgrenze ab. Noch waren alle Sterne und selbst die
Magellanschen Wolken deutlich zu erkennen. Am Horizont bildete sich nun ein rost-roter Streifen, der sich allmählich verbreiterte.
Das Schwarz der Nacht wandelte sich langsam in ein tiefes Blau. Schon waren die Magellanschen Wolken in der Dämmerung verschwunden.
Aber immer noch schwebte die Schmetterlingsgestalt des Orion hoch über dem Horizont. Von Minute zu Minute wurde es heller. In der
Ferne zeichnete sich die Kette der Hakosberge ab und weiter rechts das Plateau des Gamsberges. Das Purpurrot am Horizont setzte sich
übergangslos in ein rot-gelb, türkis-grün, hellblau, dunkelblau und indigo fort, sodass die ganze Regenbogenpalette den Horizont überwölbte.
Die schwindende Nacht ließ nun auch die Orionsterne, Aldebaran* im Stier und Sirius im großen Hund* verblassen. Nur Jupiter war noch s
chwach am fahl-blauen Himmel zu erkennen. Im Westen säumte den Horizont der blau-lila Erdschatten, über dem ein zarter Purpurschleier lag.
Ein dünner Lichtsaum zeigte an den Bergen die Stelle an, wo gleich die Sonne aufgehen sollte.
In einer Lichtblase brach nun zwischen den Berggraten am Horizont der blendende Schein der Sonne hervor. Nicht als rote Scheibe,
sondern als gleißende Lichtquelle stand sie schon nach zwei Minuten über den Bergen.
Stella war die ganze Zeit über starr dagestanden und hatte gebannt den Aufgang der Sonne verfolgt. Jetzt lief Stella ihr mit
ausgebreiteten Armen einige Schritte entgegen, und stieß einen langgezogenen Jubelschrei aus. Dann kniete sie sich nieder und berührte
mit der Stirn den Boden.
„Was machst du denn da, Stella?“ rief Karl, der aufgesprungen war.
„Das ist mein Morgenschrei!“ rief Stella zurück.
„Und dein Morgengebet“, ergänzte Karl.
Da drehte Stella sich um. Ihr liefen Tränen über die Wangen. Sie ging auf Karl zu, gab ihm einen Kuss und sprach:
„Guten Morgen, lieber Karl. Das war so wunderschön.“
Nach einer Weile sagte sie:
„Weißt du, dass ich noch nie einen Sonnenaufgang gesehen habe? So gewaltig habe ich ihn mir nicht vorgestellt
und mit solchem Getöse.“
„Welchem Getöse?“ fragte Karl. „Ich habe nichts gehört!“
„Wirklich nicht? Nicht den tiefen dunklen Ton? Nicht die Trompeten, nicht die Pauken und zum Schluss die Orgel?“
„Stella, Stella,“ sprach Karl. „Was ist nur mit dir los? Ich mache mir Sorgen!“
„Wieso?“
„Was redest du da von Trompeten und Orgel?“
„Hast du das wirklich nicht gehört?“
Karl schwieg und nahm sie bei der Hand.
„Darüber müssen wir mal in Ruhe sprechen.“
„Mir ist kalt und ich bin müde“, sagte Stella, „Ich möchte jetzt noch etwas schlafen.“
Karl begleitete Stella hinunter.
Sie legte sich auf das Bett, ohne sich zu entkleiden und schlief augenblicklich ein.
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