Warum ich Rockmusik hasse
Zur Musik
Was hat sie an musikalischen Mitteln zu bieten? Wie gestaltet sie Melodik, Rhythmus, Dynamik,
Tonalität, Harmonik, Klang und Stimme? Wie ist ihr Gesamtcharakter? Auch hier erhebe ich keinen Anspruch
auf Objektivität. Ich zeige die einzelnen Parameter so, wie ich sie empfinde. Außerdem beziehe ich mich hier
auf die 90% der Rockmusikprodukte, die die große Mehrheit der Rezipienten täglich in sich hineinzieht.
Doch selbst die 10%, die aus der Redunanzmasse durch eine gewisse Originalität herausfallen, weisen die Mängel auf,
die ich grundsätzlich aller Rockmusik (nicht dem Jazz) vorwerfe (penetrante Taktmotorik, statische Dynamik,
statisches Tempo, keine musikalische Entwicklung).
Melodik
Die Melodiebildung ist einfach und wenig differenziert. Immer wieder werden melodische Formeln gefunden
und dann ständig wiederholt. Bei raffinierterer Melodik werden aus der afro-amerikanischen Tradition stammende
blue notes eingefügt (erniedrigete dritte, fünfte oder siebte Stufe) und dirty intonation angewendet
(unsaubere Intonation).
Einige Songs kommen aber auch mit fünf Tönen aus, manche nur mit drei bis vier.
Bevorzugt wird modale Melodik.
Rhythmus
Mit dem Rhythmus ist es auch nicht weit her. Im Schlagzeug zumeist Beat oder Off-Beat im Vier-Vierteltakt,
in der Gesangstimme einfachste Rhythmik mit stereotypen Off-Beat-Noten. Die wummernden Bässe haben
einpeitschenden Charakter und heizen im Untergrund die Befindlichkeit des Publikums an.
Durch stampfende, immer gleiche Taktmotorik können tiefer liegende, seelisch-geistige Regungen erst
gar nicht entstehen, ja, sie sollen erst gar nicht entstehen. Durch den “groovenden” Rhythmus entstehen aber
reflexartige Körperzuckungen.
Dagegen entspricht variable Atemrhythmik den natürlichen Zeitrhythmen des menschlichen Organismus (Puls, Atmung).
Interessant werden die Songs dann, wenn sie, selten genug, polyrhythmische Jazzstrukturen aufweisen (Stevie Wonder).
Wenn aber das Gegeneinander von Vierermetrum und Dreiermetrum zum Prinzip erhoben wird, dann besteht die
Gefahr, dass die Originalität verloren geht. Man höre sich mal polyrhythmische Strukturen bei Strawinski an.
Der Fairness halber sei hier darauf hingewiesen, dass in der Kunstmusik bis Anfang des 20. Jahrhunderts
der Rhythmus von den Komponisten völlig vernachlässigt wurde. Erst Komponisten wie Bartok und Strawinski
gaben ihm eine völlig neue Bedeutung.
Metrum
Rockmusik kennt anscheinend nur den Viervierteltakt. Warum keinen Dreiertakt, keinen Sechsertakt? Weil diese dem
harten, stampfenden, vorwärts schreitenden Charakter im Wege stehen. Beim Dreiertakt bekommt die Musik
einen Drehimpuls, beim Sechsachteltakt einen wiegenden Charakter.
Einige Stücke versuchen durch polymetrische und polyrhythmische Strukturen die simple metrische Diktion
aufzupeppen. Im Jazz hat Dave Brubeck interessante Stücke im ungeraden Taktverhältnissen gespielt (z.B. Take Five im
5/4 Takt). Außerdem haben seine Melodien Spannungsbögen.
Dynamik
Was die Dynamik angeht, so ist sie äußerst einseitig. Fast herrscht durchgehend ein fortisssimo vor,
das bis an die Schmerzgrenze geht, ganz selten einmal leisere Töne, und dann meist nur als Vorspiel. Selbst
solche Pianopassagen sind nicht wirklich leise, da sie immer elektronisch verstärkt sind.
Sobald der Beat oder Off-Beat beginnt, hat die Rockmusik ihre Standartlautstärke erreicht und behält die bei.
Viele Gruppen drehen ihre überdimensionalen Verstärkeranlagen mit gewaltigen Lautsprechertürmen
so stark auf, dass die Musik in akustischen Terror umschlägt. Bezeichnenderweise geben sie ihrem Publikum
am Eingang Ohrstöpsel mit. Was für ein Wahnsinn!
Kaum findet man Differenzierung in der Lautstärke während der Musik, kein wirkliches piano, kein crescendo und
decrescendo, kein sforzato und erst recht kein Innehalten, keine Pausen, keine Stille.
Tempo
Das Tempo hält sich im Rahmen. Extreme Tempi sind sehr selten, da einem Massenpublikum schwer zu vermitteln.
Auch hier zeigt sich meines Erachtens ein musikalisches Defizit: Temposchwankungen sind nicht vorgesehen.
Wo findet man mal ein accellerando oder ritardando oder rubato?
Harmonik
Um sich von allem konventionell-schlagerhaften abzusetzen (bloß kein Dur) ist in der Rockmusik die
modale Harmonik sehr beliebt. Man ist hier nicht so stark auf die Kadenzharmonik festgelegt. Trotzdem
bewegen sich viele Songs in einfachen Kadenzfunktionen (meist moll). Modulationen in andere Tonarten sind
unbekannt. Wenn eine andere Tonart zwecks Langeweileverhinderung aufgesucht wird, geschieht das durch
Rückungen. Dies ist sicher kein negatives Kriterium, aber in ihrer praktischen Anwendung in der Rockmusik
sehr einseitig und undifferenziert. Manchmal gibt es auch raffinierte Jazzharmonien. Damit steigt die
Qualität des Stückes.
Mehrstimmigkeit
Für Rock- und Popmusik ist die Mehrstimmigkeit ein Fremdwort. Wenn überhaupt, dann beschränken sich die Arrangeure auf
Terzparallelen. Zwar gib es immer wieder Ansätze, echte Mehrstimmigkeit oder gar Polyphonie einzubringen, aber das
bleibt die große Ausnahme.
Klang
Von größter Bedeutung für eine Band ist ihr “Sound”, der sich aus Instrumentierung, Arrangement, Interpretation
Tonregie zusammensetzt. Der Klang ist grundsätzlich synthetisch. Das gilt sowohl für die Instrumente
(E-Gitarren, Keyboards, Syntheziser) als auch für die Stimme. Der Sound der E-Gitarre ist oft hart und knarzig,
der der Stimme schrill, rau oder nuschelig, und fast immer undifferenziert. Selbst wenn einmal eine Violine hinzukommt,
ist dies meist eine E-Violine (ein Stück Holz oder Kunststoff mit vier Saiten bespannt und an ein Kabel angeschlossen,
auf dem man dann herumstreicht).
Manchmal nehmen Rockgruppen allerdings auch fernöstliche Instrumente oder gar ein Streichquartett oder ein
Sinfonieorchester zu ihren synthetischen Klang hinzu, um den Sound etwas exotischer zu gestalten.
Eine echte musikalische Notwendigkeit kann ich schwer erkennen.
Besetzung
Die Besetzung in der Rockmusik ist erbärmlich einseitig: Ein oder mehrere E-Gitarren, Synthesizer, Schlagzeug,
Gesang mit Mikrofon. Selten kommen auch nicht synthetische Instrumente hinzu: Klavier, Bläser oder Streicher.
Es fällt schon gar nicht mehr auf, dass grundsätzlich bei jedem Stück Schlagzeug eingesetzt wird. Ich persönlich
halte das in meinem Musikverstämdnis für sehr problematisch. Man stelle sich das einmal in der klassischen Musik vor!
Stimme
Vor allem die Stimme ist künstlich. Damit sie überhaupt ein bisschen klingt, wird sie elektronisch nicht nur
verstärkt, sondern auch obertonreicher gemacht und mit Hall versehen. Wenn da mal der Strom ausfällt!!!
Nun könnte man sagen, die Stimmen und Instrumente müssen verstärkt werden, da sie unplugged kaum noch in der
zweiten Zuhörerreihe zu vernehmen sind. Das stimmt. Bei der klassischen Musik sind Sängerinnen und Sänger in der
Lage, auch die größten Konzertsäle mit ihrer Stimme zu füllen.
Fast alle Rock- und Popsänger singen mit ihrer natürlichen, unausgebildeten Stimme. Und das ist es wohl, was die Massen
interessiert. Damit können sie sich identifizieren. Um Extase zu evozieren, bedienen sich die Rocksänger einer
häufig zu vernehmenden Artikulation, dem “shout and cry”, das aus der Tradition der Gospels, der Work Songs und
des Blues stammt.
Andererseits ist es erstaunlich, mit wie wenig Stimme manche Rocksänger Karriere machen. Ein Beispiel dafür ist
Udo Lindenberg. Der nuschelt mit verhangenem Blick unter seiner Hutkrempe kaum Verständliches ins Mikro
und das Publikum lässt sich davon hinreißen. Ich kann nachvollziehen, warum Fans sich mit solchen Stimmen
identifizieren. Weil sie selber ähnlich unausgebildete Stimmen haben und weil solche musikalischen Produkte
keine differentierten geistigen Leistungen vom Hörer abverlangen.
In der Presse wird eine Gestalt wie Amy Winehouse als begnadete Künstlerin bezeichnet und man lässt ihr
Auszeichnungen zukommen. Ihr Soul oder Pop-Jazz-Gesang wird in einigen Videoclips im Internet vorgestellt.
In dem Song "Rehab" sieht man eine sich von einer Couch lasziv aufrichtende Frau, die mit dunkler Stimme
beginnt: "They tried to make me go to rehab. But I said ey no, no, no", während die Musiker im Hintergrund
auf dem Bett, auf dem Boden, in der Badewanne, auf dem Klo herumlungern und aus ihren Instrumenten
(Trompete, Saxophon, Gitarre, Schlagzeug) Begleitklänge absondern.
Jetzt ist sie an Drogen- und Alkoholmissbrauch gestorben, wie so viele andere Rockmusiker vor ihr (Club 27).
Das ist traurig und tragisch. Winehouse sang von ihren Drogenproblemen. Dann muss man so singen wie sie es tat.
Das ist ihr gutes Recht und vollkommen passend. Es zeigt aber auch, dass diese Musik ein Lebensgefühl wiedergibt,
mit dem sich Millionen von Fans identifizieren. Und das halte ich für sehr bedenklich.
Neulich las ich in einem Magazin, dass die Sängerin Adele Laurie Blue Adkins eine Stimme zum Niederknien habe.
Daraufhin habe ich mir mal einige Songs von ihr angehört. Ich fasse es nicht. Diese Kuschelstimme soll zum Niederknien sein?
Dazu vom Klavier gebrochene Harmonien aus der Mottenkiste der Dur-moll-Tonalität. Nun ja, sie hat eine gute, differenzierte
Stimme, die in der School for Performing Arts etwas aufgemotzt wurde. Ich wette, dass Millionen Menschen
auf der Welt eine ähnliche Stimme haben. Sie haben mangels Promoter nur nicht die Gelegenheit sie zu zeigen.
Niederknien! Haben diese Leute jemals die Stimmen von Christa Ludwig oder Christine Schäfer gehört?
Wahrscheinlich nicht. Denn da schalten sie sofort ab. Kunstgesang klingt unnatürlich, was ja auch stimmt, denn die Stimme
hat eine jahrzehnte lange Ausbildung hinter sich. Nur klingen die Stimmen von Popsängerinnen und Sängern noch künstlicher,
da sie durch ein Mikro geschickt werden, durch Tongeneratoren und Lautsprecher. Bei klassischer Musik hört man die
Stimme völlig ungefiltert. Jede mittelmäßige Konzert- oder Opernsängerin könnte mit etwas Übung ähnliche Laute wie
Rocksängerinnen von sich geben, Sie tun es aber nicht, weil darunter ihre Stimme leiden würde. Die meisten Sänger,
die es versucht haben, sind daran gescheitert, siehe Peter Hofmann und seit neustem Thomas Quasthoff.
Da ich klassischen Gesang liebe, mutet mich Rock- und Popgesang an, als ob ein Laie auf einem Cello herumkratzt
und diesen Klang für seine ganze Generation zum Paradigma macht.
Musikalische Entwicklung
Musikalische Entwicklung? Fehlanzeige! Die Rockmusik ist statisch. Nirgendwo erfährt sie eine Entwicklung.
Vom ersten bis zum letzten Ton der gleiche Charakter (das gleiche Tempo, die gleiche Lautstärke, die gleiche
meist modale Tonart, der ostinate Off-Beat). In den großen klassischen Werken ist jeder Ton notwendig auf die Struktur
des Stückes bezogen, nichts ist dem Zufall überlassen. Leben ist Entwicklung, Tod ist Statik. Jeder Moment unseres
Lebens ist dynamisch. Wir reagieren auf unsere Umwelt, leben in unterschiedlichsten Spannungsfeldern. Wir entspannen uns,
freuen uns, ärgern uns, interessieren uns für Dinge, wir trauern oder verzweifeln. So komplex ist unser Leben. Wenn Musik
Abbild seelischer Befindlichkeit und somit unseres Lebens sein soll, muss sie zwingend komplex sein. So verlangt auch
Entwicklung in der Musik aktives Zuhören. Das aber ist wohl keinem Rockkonsumenten zuzumuten.
Umfang des musikalischen Geschehens
Rockmusik hat keinen langen Atem. Die einzelnen Songs sind kaum länger als 5 Minuten, da sie mit ihrem statischen
Charakter kaum länger zu ertragen sind.
Komplexität
Diese Musik blendet wichtige Teile der europäischen Musikgeschichte völlig aus, als wenn es sie nie gegeben hätte:
die Polyphonie und thematisch motivische Verarbeitung. Das ist nur konsequent. Wer von den Hörern mit
schlichtester Musiksozialisation sollte auch die komplexen Geflechte eines mehrstimmigen Tongewebes durchhören
oder die Entwicklung von Themen und Ableitung von Motiven erkennen können?
Virtuosität
Man nenne mir ein Stück Rockmusik (nicht Jazz), das auch nur annähernd so virtuos ist wie viele klassische Stücke.
Es mag sicherlich Rockmusiker geben, die ihr Instrument virtuos beherrschen. Vergleicht man das aber einmal mit
der Virtuosität eines Profi-Geigers oder Pianisten, der ein Hochschulstudium hinter sich hat und viele Wettbewerbe
gewonnen hat, so können die wenigsten Pop-Musiker mit solchen Anforderungen mithalten. Profis haben eine
unglaublich harte Schule durchlaufen. Schon die Aufnahmenprüfung für die Hochschule oder Konservatorium ist so
streng, das viele hier aufgeben müssen. Ein Weltklasse-Pianist muss täglich mehrere Stunden üben, um an der
Weltspitze mitspielen zu können. (Eigentlich ein bedauernswertes Leben). Man vergleiche einmal einen guten
Rock-Schlagzeuger mit einem Profi wie Martin Grubinger.
Ausnahmen
Einige Rockfans werden auch Ausnahmen von den soeben abgegebenen Behauptungen nennen können: da spielen Musiker
unplugged Klavier, z.B. Die Ärzte, die Toten Hosen u. a. allerdings ohne Mikro geht der Gesang nicht.
Manche Stücke gibt es auch im ¾ Takt mit soften gebrochenen Dreiklängen als Begleitung, andere Gruppen zitieren
klassische Musikstücke. (Genesis versucht es manchmal mit zarten Klängen, mit Querflöte oder Streichorchester
oder auch mit Anklängen an Gregorianik. Na ja, klingt ganz kuschelig. Aber wo ist die musikalische Substanz, wo die Tiefe?
Da hat mich bis jetzt noch nichts überzeugt.
Komposition
Die Anfertigung eines Popsongs unterscheidet sich grundsätzlich von klassischer Komposition. Ist diese immer
das Werk eines Einzelnen, bei dem im Nachhinein kein Ton, keine Phrasierung geändert werden darf, so sind an der
Endfassung eines Songs meist mehrere Personen beteiligt: Songwriter, Bandmitglieder als Arrangeure, Tontechniker.
Das ist kein negatives Kriterium, soll hier aber einmal hervorgehoben werden.
Sprache
Die Vorherrschaft der englischen Sprache ist dadurch begründet, dass die Popmusik zur Popindustrie mutiert ist.
Kommerz ist alles, und der ist international. Deshalb ist Englisch vorherrschend. Raptexte werden meist in der
Landessprache verfasst, da sie so unmittelbarer wirken.
Klassische Musiker schreiben überwiegend in ihrer Muttersprache. Wir haben mit unserem Audienda-Chor Krefeld
schon zeitgenössische Chorstücke in italienisch, tschechisch, ungarisch, französisch, spanisch, englisch, russisch,
schwedisch und estisch gesungen. Wenn man den Text nicht versteht, besorgt man sich eine Übersetzung.
In der Popmusik machen das in der breiten Bevölkerung nur wenige.
Popindustrie
Aus der Popmusik eine globale Popindustrie geworden, die alles überschwemmt, und die ihren Erfolg an der größtmöglichen
Verbreitung auf niedrigsten gemeinsamen Nenner misst. Die Niveaulosigkeit ist hier Programm.
(Ich spreche nicht von Ausnahmen) „Wo kein Bedarf ist, wird er künstlich erzeugt. Einen Großteil des Pop-
Outputs braucht nachweisbar niemand – aufgezwungene Musik allerorten, eine gigantische Redundanzmaschinerie.“
(Zitat Neue Musikzeitung)
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