Die Spannung stieg aufs höchste. Einen Blick tat ich noch in das Sternrohr. Er war der letzte.
  So schmal, wie mit der Schneide eines Federmessers in das Dunkel geritzt, stand nur mehr die 
  glühende Sichel da, jeden Augenblick zum Erlöschen. Und wie ich das freie Auge hob, sah ich auch, 
  daß bereits alle andern die Sonnengläser weggetan, und bloßen Auges hinauf schauten - sie hatten 
  auch keines mehr nötig; denn nicht anders, als wie der letzte Funke eines erlöschenden Dochtes, 
  schmolz eben auch der letzte Sonnenfunken weg, wahrscheinlich durch die Schlucht zwischen 
  zwei Mondbergen zurück - Es war ein ordentlich trauriger Anblick -deckend stand nun Scheibe auf 
  Scheibe - und dieser Moment war es eigentlich, der wahrhaft herzzermalmend wirkte - Das hatte 
  keiner geahnet - ein einstimmiges „Ah" aus aller Munde, und dann Totenstille. Es war der Moment, 
  da Gott redete, und die Menschen horchten.
  Der Mond stand mitten in der Sonne, aber nicht mehr als schwarze Scheibe, sondern gleichsam 
  halb transparent wie mit einem leichten Stahlschimmer überlaufen. Rings um ihn kein Sonnenrand, 
  sondern ein wundervoller, schöner Kreis von Schimmer, bläulich, rötlich, in Strahlen auseinander 
  brechend, nicht anders, als gösse die oben stehende Sonne ihre Lichtflut auf die Mondeskugel 
  nieder, daß es rings auseinander spritzte — das Holdeste, was ich je an Lichtwirkung sah! 
  Wie heilig, wie unbegreiflich und wie furchtbar ist jenes Ding, das uns stets umflutet, das wir 
  seelenlos genießen, und das unseren  Erdball mit solchen Schaudern überzittern macht, wenn es sich 
  entzieht: das Licht, wenn es sich nur so kurz entzieht. - Die Luft wurde kalt, empfindlich kalt. 
  Es fiel Tau, daß Kleider und Instrumente feucht waren — die Tiere entsetzten sich; — Was ist 
  das schrecklichste Gewitter? Es ist ein lärmender Trödel gegen diese todesstille Majestät.
  Nach dem ersten Verstummen des Schrecks geschahen unartikulierte Laute der Bewunderung 
  und des Staunens: der eine hob die Hände empor, der andere rang sie leise vor Bewegung, 
  andere ergriffen sich bei denselben und drückten sie - eine Frau begann heftig zu wei-nen, eine 
  andere in dem Hause neben uns fiel in Ohnmacht, und ein Mann, ein ernster, fester Mann, hat mir 
  später gesagt: daß ihm die Tränen herabgeronnen.
  Gerade da die Menschen anfingen, ihren Empfindungen Worte zu geben, also da sie nachzulassen 
  begannen, da man eben ausrief: „Wie herrlich, wie furchtbar!" - gerade in diesem Momente hörte es 
  auf: Mit eins war die Jenseitswelt verschwunden, und die hiesige wieder da, ein einziger Lichttropfe 
  quoll am obern Rande wie ein weißschmelzendes Metall hervor, und wir hatten unsere Welt 
  wieder - Er drängte sich hervor dieser Tropfe, wie wenn die Sonne selber ordentlich froh wäre, 
  daß sie überwunden habe. Ein Strahl schoß gleich durch den Raum, ein zweiter machte sich Platz - 
  aber ehe man nur Zeit hatte, zu rufen: „Ach!" bei dem ersten Blitz des ersten Atomes, war die 
  Larvenwelt verschwunden, und die unsere wieder da.
 
 
  Auszug aus Adalbert Stifters Schilderung
 
 
  Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842
 
 
  
 
 
  
 
 
  
 
 
  
 
 
  
 
 
  
 
 
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