Stella hüpfte von Klippe zu Klippe. Dabei sang sie: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur, ich bin hier mit Karl auf weiter Flur.“ Immer wilder tanzte und sang sie. „Stella, was ist mit dir los? Du bist ja wie aufgedreht. Pass auf, dass du nicht fällst“, rief Karl. Stella tanzte wie toll und wirbelte nur so über die Steine. Plötzlich brach sie schreiend zusammen. Karl rannte sofort zu ihr hin. Sie lag zwischen zwei Steinen, stöhnend und wimmernd. „Ich hab dich doch gewarnt, Stella!“ rief Karl. Er untersuchte ihren linken Fuß. „Du hast dir wohl den Fuß verstaucht. Man kann ja zusehen, wie der Knöchel anschwillt. Hoffentlich ist er nicht gebrochen.“ Er tastete Stellas Fußgelenk ab. Stella ächzte vor Schmerzen. „Eigentlich muss der Fuß gekühlt werden. Aber wo soll ich kühles Wasser hernehmen? Trotzdem, ich lege dir mal einen nassen Umschlag um das Gelenk.“ Karl nahm Stella auf seine Arme und trug sie zum Eingang der Höhle und  legte sie auf ihren Schlafsack, den sie noch nicht zusammengerollt hatte. Dann tränkte er ein Handtuch mit Wasser und wickelte es um Stellas Fuß. „Stella, Stella, du machst Sachen. Wir machen jetzt erst einmal einen Plan. Ich geh wieder zum Auto, um dir eine elastische Binde holen. Ich habe den Sanitätskoffer eben schon mitgenommen. Es wird wieder eine Stunde dauern, bis ich zurück bin.“ „Lass mich nicht allein, Karl!“, rief Stella. „Du brauchst keine Angst zu haben. Hier kann dir nichts geschehen. Du hast doch jetzt schon Erfahrung. Ich war doch schon zweimal weg. Ich bin ganz bestimmt nach einer Stunde wieder zurück.“ Und damit ging Karl in Richtung des Einstiegs vom Canyon. Stella blickte in den blauen Himmel. Den pochenden Schmerz versuchte sie durch andere Gedanken zu verdrängen. Manchmal gelang es ihr auch für kurze Zeit. Die zahlreichen Farben und Strukturen der Felsen, die sie eben noch begeistert hatten, wirkten jetzt auf sie befremdlich und bedrohlich. Sie dachte an Kata und wünschte sie sich herbei. Sie blickte zur Höhlendecke und sah dort eine Eidechse herumkrabbeln. „Und wenn mich hier eine Schlange findet, eine schwarze Mamba? Aber Karl hat gesagt, hier kann mir nichts passieren. Außerdem sind Schlangen scheu. Die Mamba in Caprivi ist auch sofort verschwunden, als ich mich bewegte. Sie starrte wieder zur Decke. Die runden Steine des Konglomerats ragten wie Beulen aus der Wand. Die Eidechse saß jetzt still und hatte ihren Kopf gehoben. Dann flitzte sie einige Meter weiter und verharrte wieder. Plötzlich lief sie los und verschwand in einem Felsspalt. Die Minuten schlichen dahin. Stella hielt das Bein ganz ruhig, sodass der Schmerz gerade noch erträglich war. In den gegenüberliegenden Felsen turnten die Paviane herum. Stella konnte ihre schwarzen Gestalten deutlich erkennen. Sie fasste mit ihrer Hand in den Sand und ließ ihn langsam durch ihre Finger rieseln. „Der Sand rinnt, die Zeit rinnt, alles rinnt“, dachte sie, nahm dann kleine Steinchen auf und zielte mit ihnen nach einer Konservendose, die noch bei der Feuerstelle liegengeblieben war. Da bemerkte sie, wie etwas unter einem Felsstück hervorkrabbelte. Ein Skorpion war es, ein kleiner Skorpion, etwa fingerlang. Für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr Stella ein Gefühl von Angst, um dann sofort in Neugier umzuschlagen. Das Tier lief mit nach vorne gekrümmten Hinterteil langsam auf sie zu. „Wer bist du denn?“ fragte Stella. „Willst du mich besuchen? Ich habe dich nachts schon oft am Himmel gesehen, und jetzt kommst du zu mir?“ Stella blieb ganz ruhig im Sand sitzen und rührte sich nicht. Selbst als der Skorpion auf ihre Hand zulief, zog sie diese nicht weg, sondern ließ sie unbeweglich im Sand ruhen. Etwas Anziehendes ging von diesem Tierchen aus, etwas, was sich Stella nicht erklären konnte. Der Skorpion hielt unmittelbar vor ihrer Hand an. Stella befiel ein fast unüberwindliches Verlangen, ihn zu fassen, ihn aufzuheben. Doch sie blieb regungslos und beobachtete, wie er seine Scheren bewegte und damit sacht ihre Finger berührte. Den Hinterleib mit dem Stachel hielt er unbeweglich nach oben gerichtet. Plötzlich machte das Tier eine Wendung, lief zur Höhle und verschwand in einem Erdloch. „Was war denn das für ein seltsamer Besuch?“, sagte Stella laut vor sich hin. Sie hatte bei der Begegnung mit dem Skorpion ihre Schmerzen vollkommen vergessen. Doch jetzt meldeten sie sich um so heftiger zurück. Sie schaute auf ihre Uhr. „Noch zwanzig Minuten, dann kommt Karl. Und wenn er nun nicht kommt?“ Sie zählte nun jede Minute mit.  „Wenn Kata jetzt hier wäre, die würde mich trösten. Ich würde meinen Kopf in ihren Schoß legen und sie würde mich streicheln. Wäre ich doch nicht auf den Steinen herumgetanzt. Karl hatte mich noch gewarnt. – Noch zehn Minuten. Gleich wird Karl dahinten um die Ecke biegen. Ich werde dann laut rufen.“ Einige Fliegen schwirrten um ihren Kopf. Stella verscheuchte sie. „Wo kommen die denn jetzt her? Das sind die ersten Fliegen, die ich in Namibia sehe.“ Sie blickte jetzt ständig auf die Uhr. Die Sonne war schon längst hinter der Felswand verschwunden. Die ganze Schlucht lag jetzt im Schatten. Voller Unruhe starrte sie in Richtung der Felsecke, hinter der Karl vor einer Stunde verschwunden war. „Jetzt muss er kommen, jetzt muss er kommen!“, sprach sie laut vor sich hin. Aber nichts war von ihm zu sehen. „Warum kommt er nicht? Er kann mich hier doch nicht allein zurücklassen, mitten in der Wüstenschlucht.“ Sie fühlte einen Krampf in der Magengegend, der sich durch den ganzen Körper ausbreitete. „Er wird kommen, er wird kommen“, rief sie, und eine Welle der Hoffnung durchströmte sie. „Er wird kommen und mich hier nicht verschmachten lassen. Er hat sich nur aus irgendeinem Grund verspätet.“ In ihrer Not begann sie zu singen, wirres Zeug und immer wieder „Karl wird kommen, Karl wird kommen.“ Sie saß jetzt aufrecht und wippte ständig mit dem Oberkörper hin und her. Lauter und lauter sang sie in die Stille des Canyons hinein. Bei dem Gedanken, ihm könnte ein Unfall widerfahren sein und  auch er hilflos irgendwo im Staube liegen, schnürte sich ihr die Kehle zu und sie verstummte wieder. Auf einmal bemerkte sie, wie Blut aus ihrer Nase strömte und die Tropfen auf ihre Hand fielen. Verzweifelt suchte sie in ihrer Jacke nach einem Papiertaschentuch, fand aber keines. Für Momente war sie jetzt von ihrer Angst abgelenkt und versuchte durch Zudrücken der Nase den Blutstrom zu hemmen. Es wollte ihr nicht recht gelingen. Schon spürte sie den Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Leise wimmerte sie vor sich hin und begann zu beten. Plötzlich fuhr sie hoch. Sie hatte in einiger Entfernung einen Schuss gehört. „Das ist Karl! Das kann nur Karl sein!“ schoss es ihr durch den Kopf. „Er will mir ein Zeichen geben.“ Zitternd vor Hoffnung war sie aufgestanden und hatte ihren Schmerz im Fuß dabei völlig verdrängt. So stand sie eine Weile. Als sie aber kein weiteres Zeichen vernahm, schwand ihre Zuversicht allmählich und machte einer dumpfen Verzweiflung platz. Sie musste sich wieder hinsetzen. Da erblickte sie an der Felskante eine Gestalt. „Er ist es! Er ist es!“, brach es aus ihr hervor. Sie richtete sich wieder auf und schrie aus voller Kehle: „Karl! Karl!“ Dann brach sie zusammen. Sie sah, wie Karl atemlos herangehetzt kam. „Tut mir leid, Stella. Ich konnte nicht früher kommen. Aber du hast sicher Angst gehabt.“ Er nahm sie in den Arm und sie weinte bitterlich. "Du armes Kleines! Hast dich so geängstigt. Lass dich mal anschauen. Du bist ja völlig blutbeschmiert. Hattest du wieder Nasenbluten?“ Er holte aus seinem Rucksack ein Tuch und wischte ihr Gesicht sauber. Stellas T-Shirt war völlig mit Blut besudelt. „Wegen Nasenbluten brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Das sieht alles schlimmer aus, als es ist. Du blutest auch schon gar nicht mehr.“ Er nahm sie wieder in den Arm und streichelte ihr Haar. „Hast du wenigstens meinen Schuss gehört? Ich konnte nicht eher hier sein. Ein Unglück kommt selten allein. Als ich zum Wagen kam, wollte ich ihn näher zum Canyoneinstieg fahren. Aber er sprang nicht mehr an. Ich habe dann alles versucht, ihn zum Laufen zu bringen, ohne jeden Erfolg. So, jetzt sitzen wir hier fest. Ausschnitt aus dem Kapitel Unfall Impressum Startseite Schule Biografie